Der Abstimmungskampf 1955 | ||||||||
und die Rolle der Polizei in Neunkirchen | ||||||||
von Armin Schlicker | ||||||||
Die Rolle der Polizei in Neunkirchen
Wenige Tage nach den Zusammenstößen vor der Wartburg, kam es am 17. August 1955 im Ev. Gemeindehaus in der Vogelstraße in Neunkirchen zur nächsten Großkundgebung der Europa-Bewegung mit dem Ministerpräsidenten und CVP-Vorsitzenden Johannes Hoffmann und dem Landtagspräsidenten von der SPS Peter Zimmer und zu einer großen Gegendemonstration, die in Gewalttätigkeiten endete. In den Tageszeitungen wurde anschließend völlig unterschiedlich darüber berichtet: - Neueste Nachrichten (NN) v. 18. 8. 1955 - Tränengas in Neunkirchen - Saarl. Volkszeitung (SVZ) v. 19. 8. 1955 - Schlimmster Straßenterror gegen Europa-Idee - Deutsche Saar (DS) v. 20. 8. 1955 - Letzte Hilfe: Tränengas Dagegen schrieb die Saarbrücker Zeitung (SZ) am 19.8.1955: „Die 2. Großkundgebung der Europa-Bewegung.......in Neunkirchen konnte, nachdem ein paar Störenfriede entfernt worden waren, in voller Ruhe durchgeführt werden“. Was war passiert? Über 6000 Menschen waren zu diesem Ereignis nach Neunkirchen gekommen. Der Andrang zum Veranstaltungsraum war so stark, dass bereits um 19.15 Uhr die Türen geschlossen werden mussten, weil Saal und Galerie mit etwa 1200 Menschen überfüllt waren. So sammelten sich bis 20.00 Uhr tausende von Menschen in der Vogelstraße und in der Hüttenbergstraße. Auf der Straße waren zwar auch Sympathisanten, überwiegend jedoch Gegner der Veranstalter. Die örtliche Schutzpolizei, die mit ihren Beamten zunächst im Vorfeld im Einsatz war, verhielt sich nach Meinung von Beobachtern durchweg ruhig und neutral. Die Neuesten Nachrichten berichteten dazu am 19.8.1955: „Die Schupo Neunkirchen, machte auf die Bevölkerung den besten Eindruck. Sie war freundlich und hilfsbereit“. Leiter der Schutzpolizeidienststelle Neunkirchen war zu diesem Zeitpunkt der damals 43-jährige Polizeikommissar Heinrich Schneider (in den 60-iger Jahren Leiter der gesamten saarl. Schutzpolizei) und sein Vorgesetzter als Leiter der Polizeiinspektion Neunkirchen der Polizeirat Friedrich Krumbach, ein Frankophiler, der nach der Abstimmung nach Frankreich ging und die französische Staatsangehörigkeit annahm. Leiter der Kriminaldienststelle Neunkirchen war der 38-jährige Kriminalkommissar Klaus Weber, der später beim saarl. Verfassungsschutz Karriere machte. Am Kundgebungstag, gegen 18.00 Uhr, fuhren für jeden sichtbar 9 große Mannschaftstransportwagen am Hüttenberg vor mit etwa 200 Angehörigen der kasernierten Polizei aus Saarbrücken (Saarbataillon). Als die vielen Mannschaftstransportwagen dieser Einheit gesehen wurden, kam es zu ersten Missfallenskundgebungen („Polizeistaat“). Die Deutsche Saar schrieb dazu am 20.8.1955: „Der Teufel muss die Polizei geritten haben, als sie in Neunkirchen schon 2 Stunden vor Beginn große Polizei-Lastkraftwagen demonstrativ am Hüttenberg abstellte und damit helle Empörung provozierte“(26). Dazu passte es auch, dass vor den Augen der Zuschauer auf der Straße viele Beamte in Zivil eingeteilt wurden. Die Polizeikräfte umstellten den Versammlungsort, um ein weiteres Eindringen von Zuhörern vor allem aber von Gegendemonstranten in das Haus zu verhindern. Den Hauptrednern war von den Demonstranten der Weg zum Versammlungsgebäude versperrt worden und musste von der Polizei gewaltsam freigemacht werden. Dabei wurden Hoffmann und Zimmer mit dem Deutschlandlied und „Deutsch ist die Saar“ sowie mit Pfui-Rufen empfangen. Sie fuhren mit dem Fahrzeug bis an den Eingang heran und wagten es erst im Schutz fester Mauern und vieler Polizisten das Auto zu verlassen(27). Als die Demonstranten versuchten, gewaltsam in das Gebäude einzudringen, sollte die Menschenmenge durch die Polizei abgedrängt und zerstreut werden. Dabei kam es auch zum Einsatz von Gummiknüppeln und zu Verletzten. Eine kleine Gruppe von Beamten vor dem Haus, die personell zu schwach war, wurde gegen die Türen gedrängt, bedroht und zum Teil angegriffen. Man versuchte ihnen aus der Vorhalle des Ev. Gemeindehauses heraus zu Hilfe zum kommen. Nun eskalierte das Geschehen. Die Polizei setzte Tränengas ein, während die Demonstranten sich an einem Baugerüst am Hüttenberg mit langen Stangen bewaffneten und gegen die Polizei anrannten. Kommandeur des Saarbataillons, der auch vor Ort den Einsatz leitete, war der wegen seines persönlichen Mutes von seinen Mitarbeitern sehr geachtete Polizeirat Heinrich Dräger (während des 2. Weltkrieges Kommandeur eines Panzerbataillons in Nordafrika). Das Saarländische Innenministerium teilte zu dem Geschehen anderntags mit: „Bei der gestrigen Kundgebung der Europa-Bewegung in Neunkirchen machten Demonstranten den Versuch, mit Gewalt in das Ev. Gemeindehaus einzudringen. Eine kleine Gruppe von uniformierten Polizeibeamten wurde gegen die Türen gedrängt, bedroht und zum Teil angegriffen. Als die wenigen Beamten im Handgemenge überwältigt zu werden drohten, versuchte man ihnen aus dem Versammlungsgebäude zu Hilfe zu kommen und die Demonstranten zurückzudrängen. Dabei warfen die Demonstranten einen chemischen Kampfstoff gelber Farbe unter die Polizisten, der Tränengaswirkung hatte. Die Saarbrücker Allgemeine Zeitung und die DSP spricht von Stinkbomben. Die Demonstranten warfen weiter mit größeren Mauersteinen und griffen zu Baulatten und Gerüststangen. Da es nunmehr bei der Polizei Verletzte gab und auch das Gebäude beschädigt wurde, sah sich der für Ruhe und Ordnung verantwortliche Polizeioffizier (Anmerk. des Autors: Polizeirat Heinrich Dräger) genötigt, seine Beamten anzuweisen, nunmehr auch ihrerseits mit Tränengas vorzugehen und die Straße zu räumen. Während der Demonstration wurden 7 Personen zur Verhütung strafbarer Handlungen vorläufig festgenommen und im Anschluss an ihre verantwortliche Vernehmung um 24 Uhr wieder freigelassen. Bei anderen Demonstrationen im Zusammenhang mit der Kundgebung wurden weitere 6 Personen wegen Widerstandsleistung ebenfalls festgenommen und gegen 01.30 Uhr morgens entlassen. Die Zahl der verletzten Zivilpersonen beläuft sich auf 12. Davon befinden sich 3 noch im Krankenhaus. Die Polizei hatte insgesamt 7 Verletzte“(28). Wie aus der Verlautbarung des Innenministeriums zu entnehmen ist, kam es auch abseits der Vogelstraße zu Straftaten und Zusammenstößen. So wurde u. a. in Höhe der Marienkirche ein privater Kleinbus umgestürzt und die Reifen zerschnitten. Mehrere Quellen berichten, dass unter den gewaltsamen Demonstranten, von denen sich die Heimatbund-Parteien ausdrücklich distanzierten, viele Kommunisten und (offenbar von ihnen) aus pfälzischen Städten (Kaiserslautern und Pirmasens) herbeigeholte Rowdys festgestellt wurden(29). Nach der Veranstaltung konnten Hoffmann und Zimmer längere Zeit wegen der Krawalle das Gebäude nicht verlassen und flüchteten schließlich durch den Hintereingang unterhalb des Eden-Kinos. Zu dem Vorgehen der Polizei schrieb die NN am 20.8.1955: „Wir haben volles Verständnis, dass ein Polizeibeamter gegen Befehle nicht ungehorsam sein kann. Wir können es auch durchaus begreifen, dass den Beamten der Geduldsfaden reißt, wenn sie von kommunistischen Rabauken fortgesetzt gereizt oder tätlich angegriffen werden. Wir befinden es als eine verabscheuungswürdige Tat, dass ein Polizeibeamter mit einem gewaltigen Stein, der ihn am Kopf traf, zu Boden gestreckt wurde. Aber muss man dafür mit dem Gummiknüppel auf wehrlose Menschen einschlagen?“ Es gab auch nach der Wartburg in Saarbrücken und dem Ev. Gemeindehaus in Neunkirchen noch einige Auftritte von Hoffmann, die gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten zur Folge hatten, so u.a. am 18.8.1955 in St. Ingbert und am 14.9.1955 in Völklingen. CVP und SPS haben zwar immer wieder versucht, nicht nur die KP, sondern auch die Parteien des späteren Heimatbundes mit der Schuld an den Tätlichkeiten und Ausschreitungen zu belasten. Ein wirklicher Nachweis ist jedoch nicht geführt worden. Den Heimatbundparteien lag alles daran, sich von den Kommunisten zu distanzieren. Die Vorkommnisse in Saarbrücken, Neunkirchen und St. Ingbert waren alles andere als repäsentativ für den Abstimmungskampf. So unerfreulich diese Einzelerscheinungen auch waren, so waren sie für die große Zahl der Veranstaltungen doch nicht charakteristisch. Charakteristisch war vielmehr die Spontaneität der Demonstrationen weiter Teile der Saarbevölkerung gegen Hoffmann bei der erstbesten Gelegenheit, eben ab diesem 23. Juli 1955, aber in friedlicher Weise(30). Weiterer Verlauf Der Abstimmungstag am 23. Oktober 1955 verlief ruhig. Es gab eine für heutige Verhältnisse sagenhafte Wahlbeteiligung von 96,72 %. Mit Nein stimmten 67,71 % und mit Ja 32,29 %. Die Saarländer hatten allerdings nur über ihre Zustimmung oder Ablehnung zu einem europäischen Statut für das Saarland abgestimmt, nicht etwa über den weiteren Verbleib des Landes. Aber die Bevölkerung hatte sich wieder einmal, wie stets seit 1815, wenn eine wirklich freie Meinungsäußerung möglich gewesen war, gegen jede Separation von Deutschland ausgesprochen. In den heutigen Neunkircher Stadtteilen gab es damals folgende Ergebnisse: Neunkirchen: Gültige Stimmen: 28910 Ja-Stimmen: 10120 Nein-Stimmen: 18790 Anteil Neinstimmen: 65,0 % Wiebelskirchen Gültige Stimmen: 7092 Ja-Stimmen 1707 Nein-Stimmen 5385 Anteil Neinstimmen: 75,9 % Hangard Gültige Stimmen: 1133 Ja-Stimmen 366 Nein-Stimmen 767 Anteil Neinstimmen: 67,7 % Münchwies Gültige Stimmen 750 Ja-Stimmen: 274 Nein-Stimmen: 476 Anteil Neinstimmen: 63,5 % Innerhalb weniger Wochen hatten die prodeutschen Statutgegner einen kompletten Meinungswechsel an der Saar bewirkt. Daran hatten auch wiederholte Empfehlungen zur Zustimmung zum Statut von Bundeskanzler Adenauer nichts mehr geändert. Der Meinungsumschwung an der Saar kam für viele außen stehende Beobachter seit Mitte September 1955 erdrutschartig(31). Trotz des eindeutigen Sieges reagierten die prodeutschen Parteien an der Saar sehr zurückhaltend und erklärten nachdrücklich ihre Verständigungsbereitschaft und ihren Wunsch nach gutnachbarlichen Beziehungen zu Frankreich. Da bei Abschluss des Saarabkommens am 23.10.1954 offenbar niemand ernsthaft mit einer Ablehnung durch die Bevölkerung des Saarlandes gerechnet hatte, war es versäumt worden, Vorkehrungen für den Fall einer Ablehnung zu treffen. Lediglich für den Fall der Zustimmung war festgelegt worden, dass innerhalb von drei Monaten Landtagswahlen durchgeführt werden sollen. So stand die Gefahr eines politischen Vakuums im Raum. Auf Grund der verheerenden Niederlage trat Johannes Hoffmann jedoch, nachdem das offizielle Ergebnis der Abstimmung feststand, mit seiner Regierung zurück. Es kam zu einem Übergangskabinett unter Heinrich Welsch und am 18.12.1955 zu Neuwahlen. Dort stellten sich im christlichen Lager CDU und CVP und im sozialdemokratischen Lager SPD und SPS zur Wahl. Die Wahl endete mit folgendem Ergebnis: CDU: 149 516 Stimmen = 25,4 % CVP : 128648 Stimmen = 21,8 % SPD: 84408 Stimmen = 14,3 % SPS: 34284 Stimmen = 5,8 % DPS: 142593 Stimmen = 24,2 % KP: 38696 Stimmen = 6,6 % Aus Neunkirchen gab es folgende Abgeordnete im neuen Landtag: CDU Walter Lorrang CVP Dr. Irmgard Fuest Werner Scherer SPD Friedrich Regitz Norbert Engel SPS Hermann Petry Neuer Ministerpräsident wurde Hubert Ney von der CDU. Frankreich respektierte das Abstimmungsergebnis und willigte – gegen das Zugeständnis bedeutender wirtschaftlicher Konzessionen – im Luxemburger Abkommen vom 27. Oktober 1956 in die Rückgabe des Saarlandes an die Bundesrepublik ein(32). Die Tatsache, dass Frankreich die Entscheidung der Saarländer anerkannte und die Rückgliederung zuließ, war ausschlaggebend für eine wirkliche deutsch-französische Verständigung. Heute kann man also sagen, dass das eindeutige Votum der Saarländer die Voraussetzung dafür geschaffen hat, dass ein uralter Streit zwischen Frankreich und Deutschland beendet und damit der Weg für eine Annäherung der beiden großen europäischen Völker beschritten werden konnte (33). Es dauerte noch jahrelang bis die Wunden der Abstimmungszeit verheilt waren und die Kluft zwischen den beiden christlichen Parteien und den beiden sozialdemokratischen Parteien im Saarland überwunden werden konnte und es zu Vereinigungen kam. Ebenso lange dauerte es, bis die Spaltung in der Gesellschaft (Familien, Kollegenschaften, Vereine, Freundschaften) überwunden war. |
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Das Quellenverzeichniss finden Sie im vorherigen Teil
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Armin Schlicker
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