Historischer Verein
Stadt Neunkirchen e.V.

Historischer Verein Stadt Neunkirchen e.V.


Geschichte der Arbeiterbewegung
Kämpfe für soziale Demokratie und Verteilungsgerechtigkeit
von Georg Jung – 1. Teil

1848 – 1914
Im 19. Jh. veränderte sich das wirtschaftliche Erscheinungsbild Deutschlands grundlegend. Die industrielle Revolution hatte vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts den kapitalistischen Industriebetrieb zum alles beherrschenden Faktor gemacht. Krupp, Stumm, Stinnes und Mannesmann sind nur einige Namen derer, die als Pioniere dieser Entwicklung gelten und bereits in jenen Jahren industrielle Komplexe in riesigem Ausmaß begründeten.
Auch die Stellung Deutschlands in der Weltwirtschaft veränderte sich. Aus einem Agrarland wurde noch vor Beginn des 1. Weltkrieges die zweitstärkste Industrie- und Handelsmacht der Welt. Nicht anders verlief die Entwicklung im Saarrevier. Hier etablierten sich mit dem Bergbau und der Stahlindustrie zwei Wirtschaftszweige, die das ökonomische und soziale, aber auch das politische Leben der Region zumindest bis zur Mitte des 20. Jh. bestimmten. Bis zum Beginn des 1. Weltkrieges bildete sich ein Komplex aus fünf Eisenwerken heraus. Die Burbacher und die Völklinger Hütte, das Neunkircher Eisenwerk sowie die Dillinger und die Halberger Hütte. Letztere sowie das Neunkircher Eisenwerk befanden sich völlig im Besitz der Familie Stumm.
Die Zahl der Einwohner Neunkirchens stieg durch die Industrialisierung und Verstädterung von 3.007 im Jahre 1847 auf 15.423 in 1880 und 36.402 in 1910.
1858 waren auf dem Eisenwerk rund 1000 Arbeiter beschäftigt, 1878 bereits 1.667 und 1905 dann 4.491 Arbeiter. Ähnlich die Entwicklung auf den Gruben: 1885 arbeiteten auf Heinitz und Dechen 4.257 Menschen, auf König und Wellesweiler 2.666. 1910 betrugen die Vergleichsziffern etwas mehr als 6.000 auf Heinitz und Dechen sowie fast 5.000 auf König und Wellesweiler.
Die soziale Lage vermag ein Bericht des Ottweiler Landrates für 1861 zu illustrieren, in dem es heißt: „Eine den arbeitenden Klassen angehörige Familie braucht im Jahr etwa 150 bis 200 Taler, um bei Sparsamkeit in allen Ausgaben gut bestehen zu können“. Betrachtet man die überlieferten Lohnangaben, scheint das gute Bestehen für Meister und hochqualifizierte Arbeiter möglich gewesen zu sein, nicht aber für die Masse der ungelernten Arbeiter. Erst recht nicht für die zahlreichen Tagelöhner und ebenso wenig für die weiblichen Beschäftigten, die in den Lohnskalen zumeist ganz unten zu finden waren. Verantwortlich für diese Entwicklung an der Saar ist in erster Linie das mit dem Namen Stumm verbundene System der „milden und der harten Hand“. Seine „milde Seite“ begleitete praktisch den gesamten Lebensweg der Beschäftigten des Eisenwerks und ihrer Familie und prägte gleichzeitig das Erscheinungsbild der Stadt. Die Kleinkinderschule des Werks, die Hüttenschule sowie die Fortbildungsschule dienten der Aus- und Weiterbildung derer, die die Einrichtung besuchten. Der Knappschaftsverein sicherte Kranken und Invaliden Sterbe-, Witwen- und Waisenversicherung. Hinzu kamen ein Krankenhaus sowie eine Altersversorgung zum Waisenhaus, beide ebenfalls vom Werk bereitgestellt.

Archiv Saarstahl Völklingen, Werk Neunkirchen: Zirkulare des Karl Ferdinand Stumm 1873 bis 1901.

Wir erwarten von allen Arbeitern, dass sie sich auch außerhalb des Dienstes in einer Weise aufführen, welche unserem Hause zur Ehre gereicht. Sie können gewärtig sein, dass ihr Privatverhalten von uns stets im Auge behalten und dass eine schlechte Aufführung außer Dienst die Kündigung nach sich ziehen wird. Dies bezieht sich insbesondere auf Tätlichkeiten und Ungezogenheiten gegen Mitarbeiter und Vorgesetzte sowie Ruhestörungen und Raufhändel außerhalb des Werkes, endlich auf Vergehen, für welche auf eine Gefängnisstrafe von mehr als vierzehn Tagen rechtskräftig erkannt wird. Außerdem hat jeder unserer Arbeiter die Kündigung zu gewärtigen, welcher:
1. das Verbot des Schießens auf öffentlichen Straßen, namentlich in der Neujahrsnacht, übertritt;
2. sich verheiratete oder gerichtliche Klage gegen Mitarbeiter führt, ohne uns seine Absicht zuvor angezeigt zu haben;
3. seinen Vorgesetzten oder deren Familienmitgliedern ohne unsere Zustimmung Geschenke macht;
4. von Fremden Trinkgelder oder sonstige Geschenke für Handlungen, welche seinen Dienst berühren, annimmt;
5. selbst oder durch seine Angehörigen (Frau, Kinder und Verwandte, welche zu seiner Haushaltung gehören) ohne unsere Erlaubnis irgendwelches Nebengeschäft betreibt oder betreiben lässt. Der Ackerbau gilt nicht als Nebengeschäft;
Anweisung der Direktion der Firma Stumm vom 31. März 1892

Da ein Hüttenarbeiter bei der Hochzeit Ersparnisse vorweisen musste, gab ihm die Werksparkasse Gelegenheit, sein Einkommen dort zu sparen. Die Heirat zwischen den richtigen Partnerinnen und Partnern wurde von einer besonderen Stiftung von Fall zu Fall mit Bereitstellung der nötigen Ausstattung unterstützt, Mietwohnungen und Pachtackerland für Jungverheiratete angeboten. Natürlich fehlten auch Hüttenbibliothek und Speisesäle nicht, ebenso wenig Badeanstalten oder der Stumm’sche Park mit sonntäglichen Konzerten.
Kurzum, jeder auf der Hütte Beschäftigte profitierte von diesen Einrichtungen.
Die „harte Hand“ aber erfasste durchaus nicht nur das Verhalten am Arbeitsplatz. Die Arbeiter konnten auch gewärtig sein, so war eine Anweisung der Direktion im März 1892 „dass ihr Privatleben von uns stets im Auge behalten und dass eine schlechte Aufführung außer Dienst die Kündigung nach sich ziehen wird“. Als Vergehen im Sinne dieser Anweisung galten Tätlichkeiten und Ungezogenheiten gegenüber Mitarbeitern und Vorgesetzten, Ruhestörungen und Raufhändel, Straftaten, die eine mehr als 14-tägige Gefängnisstrafe nach sich zogen und natürlich auch Betätigung oder Mitgliedschaft oder Berührung mit der Sozialdemokratie.
Ausdrücklich der Zustimmung der Direktion bedurften die Heirat, gerichtliche Klagen gegenüber Arbeitskollegen, Schenkungen an Vorgesetzte oder deren Familien, die Annahme von Trinkgeldern oder ähnliche Geschenke von Dritten, der Betrieb von Nebenerwerb (außer Ackerbau) sowie der Beitritt zu einem anderen Knappschaftsverein oder anderen Krankenkasse.
Über den Tod Stumm’s hinaus im Jahre 1901 wurden bei wie auch immer gearteten Beziehungen zur Sozialdemokratie oder anderen Organisationen, die in Verdacht gerieten, Bestrebungen der Arbeiterbewegung nach Neunkirchen zu tragen, knallharte Maßnahmen ergriffen. Der Verein zur Bekämpfung der Sozialdemokratischen Bewegung, nämlich die zusammen geschlossenen wichtigsten Unternehmen des Saarreviers, insbesondere die Hüttenwerke und die Bergwerksdirektion Saarbrücken fassten schon 1877 folgenden Beschluss:
1.) Es sollen keine Arbeiter auf den Werken geduldet werden, welche sich an der sozialdemokra tischen Agitation direkt oder indirekt beteiligen, insbesondere
a. sozialdemokratische Blätter lesen oder verbreiten,
b. an sozialdemokratischen Versammlungen oder Vereinen teilnehmen,
c. Wirtshäuser frequentieren, in welchen sozialdemokratische Versammlungen abgehalten werden oder
d. Blätter dieser Richtung ausliegen.
2.) Arbeiter, welche in Ausführung dieses Beschlusses entlassen werden, sollen auf keinem anderen Werk Aufnahme finden.
Schon Jahrzehnte vorher hatten im Zuge der bürgerlichen Revolution etwa 150 unständige Bergarbeiter in der Region Neunkirchen ihre Erfahrungen gemacht. Im April 1848 waren sie infolge der wirtschaftlichen schlechten Lage von der Grube entlassen worden. Als sie dann beim Eisenbahnbau beschäftigt waren, traten sie in den Streik. Während sie zum Büro der Bauleitung zogen, wurde die Bürgerwehr alarmiert. Unter Führung des damaligen Eisenwerksdirektors Ferdinand Steinbeis trat die Bürgerwehr den Streikenden entgegen und beendete den Aufstand.
1858 trat Karl Ferdinand Stumm in die Leitung des Neunkircher Eisenwerkes ein. Von nun an verkörperte er die „harte Hand“ gegenüber allen politischen Bestrebungen, die nicht seiner Einstellung entsprachen. Sein Programm, insbesondere gegenüber der Arbeiterbewegung formulierte er am pointiertesten in seinem Vorschlag für ein Sozialistengesetz 1895:
§1: Den Sozialdemokraten einschließlich der Anarchisten werden das aktive und das passive Wahlrecht entzogen.
§2: Die Agitatoren werden ausgewiesen oder interniert.
Das Nähere bestimmen die Ausführungsbestimmungen.
Von dieser Haltung waren nicht nur SPD und Gewerkschaften bedroht.
Das freisinnige „Neunkircher Tageblatt“ druckte im Herbst 1880 ein Gedicht ab, das das Schicksal alter aus den Fabriken herausgedrängter Arbeiter zum Thema hatte. Stumm untersagte Beschäftigten des Eisenwerkes kurzerhand den Bezug der Zeitung. Im Komitee der Arbeitgeber des Saarreviers ließ er einen Beschluss fassen, mit dem dieses Verbot von den anderen Unternehmen übernommen wurde.
Die SPD selbst und mit ihr auch die freien Gewerkschaften hatten 1876 erstmals einen ernsthaften Versuch gewagt, sich an der Saar auszubreiten. Von der Parteileitung wurde der Uhrmacher Karl Rudolph Hackenberger mit dieser Aufgabe betraut, scheiterte aber spätestens am oben zitierten Beschluss des Vereins zur Bekämpfung der sozialdemokratischen Bewegung vom Juli 1877.
Erst mit der im Saarland bei der Streikbewegung der Bergarbeiter 1889 und 1893 erzielten Aufmerksamkeit sowie dem Wirken der Arbeit des Rechtschutzvereins gab es neue Hoffnung.

Landesarchiv Saarbrücken: Bestand Landratsamt Saarbrücken, Abteilung XV (Polizeiangelegenheiten) S/1.

 1.) Es muß eingeführt werden eine achtstündige Arbeitszeit mit Aus- und Einfahrt
 2.) Die Gedinge müssen mit so gestellt werden, dass der Arbeiter in dieser Zeit vier Mark verdienen kann, ferner, dass den Schleppern pro Monat drei Schichten abgesetzt werden, jedoch nur drei Jahre.
 3.) Daß die Einsperrungstüre der betreffende Ein- und Ausgangsstollen gänzlich hin wegfallen.
 4.) Die jungendliche Arbeiter unter 16 Jahren müssen mit 1,50 Mark und diejenige über 16 Jahren nicht unter 2,20 bis 2,40 Mark ausgelohnt werden.
 5.) Abzüge von den Löhnen zur Kreissparkasse müssen ganz in Wegfall kommen.
 6.) Für leichte Wagen soll ein Drittel der Grube zufallen, das heißt, von drei Wagen zwei der Kameradschaft und ein Wagen der Grube, so auch bei unsauberen Wagen, außerdem wird noch eine Strafe von 25 Pfennig pro Wagen für unsaubere zugelassen.
 7.) Wurde beschlossen, dass ein Mann der mindestens zwanzig Jahre in Kohlen gearbeitet hat, für unsaubere Kohlen zu machen genommen werden muß.
 8.) Einstimmig wurde angenommen, dass ein Mann in unverschuldeten Notfällen nicht mehr kann bestraft werden, jedoch Arbeiter, welche mehrere Schichten feiern, kann eine Strafe bis zu drei Mark zugelassen werden.
 9.) Beschlossen wurde, dass eine zweite Strafe des Bergarbeiters in Wegfall kommen muß, das heißt für die Leute, die eine Gefängnisstrafe verbüßt haben.
10.) Es wurde beschlossen, dass die Arbeitszeit Montags und den Tagen nach den Feiertagen die Anfahrtszeit auf acht Uhr morgens festgesetzt wird, Samstags dagegen von vier Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags.
11.) Alle bis jetzt abgelegte Bergarbeiter müssen nach Beschluß der Versammlung in ihre frühere Rechte eingesetzt werden, ausgeschlossen sind diejenige, welche wegen Diebstahls der Kohlenwagens in der Grube bestraft sind.

Forderung der Bergarbeiterversammlung in Bildstock vom 15. Mai 1889

Die Streiks trafen auch die Gruben in Neunkirchen. Der Rechtsschutzverein organisierte innerhalb weniger Monate einen beträchtlichen Teil der Bergarbeiter. Im Kreis Ottweiler waren es im Oktober 1890 etwa 75% der 8799 Beschäftigten. Zur SPD ging der Rechtsschutzverein auf Distanz.
Zitat: Lasset Euch nicht irre machen, wir sind keine Sozialdemokraten. Wir werden nie in das Fahrwasser der Sozialdemokraten übergehen und nur die Rechte der Bergarbeiter vertreten, bis wir dasjenige erreicht haben, war wir im Mai 1889 forderten. Die SPD selbst bemühte sich um neue Ansätze. Im September 1892 sprach August Bebel, damals Vorsitzender der SPD und Leitfigur der deutschen Arbeiterbewegung im Bildstocker Rechtsschutzsaal. Wenige Monate später aber zerfiel der Rechtsschutzverein, nachdem ein weiterer Streik ohne Erfolg beendet werden musste. Die „harte Hand“ regierte. Fast 500 mutmaßliche Hauptagitatoren und knapp 2000 weitere wurden auf unbestimmte Zeit entlassen. Der Rechtsschutzverein löste sich 1896 auf.Viele der Gemaßregelten mussten ihre Heimat verlassen, andere schlugen sich als Gelegenheitsarbeiter oder Hausierer durch.
Der Versuch der SPD und des Bergarbeiterverbandes sich an der Saar zu etablieren, war gescheitert. In diese Lücke stieß die katholische Kirche mit der Gründung des Verbandes katholischer Berg- und Hüttenarbeitervereine. Ab März 1903 arbeitete der gelernte Bergmann Batholomäus Koßmann aus Eppelborn als Arbeitersekretär der kath. Arbeitervereine in Neunkirchen. 1906 zählte man in Neunkirchen 1100 Mitglieder. Ab 1904 gab es auch den Gewerkschaftsverein christlicher Bergarbeiter. 1906 hatte er in Neunkirchen 116 und in Wiebelskirchen 530 Mitglieder. Obwohl der SPD nicht nahestehend, waren sie dem Preußischen Landrat suspekt.
SPD und freie Gewerkschaften nahmen erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen neuen Anlauf. Im Februar 1907 gründete sich in Neunkirchen ein sozialdemokratischer Verein für den Wahlkreis Ottweiler - St. Wendel - Meisenheim. An der Spitze stand Ludwig Hetterich, ein Mitglied des ehemaligen Rechtsschutzvereins. 1893 im letzten großen Bergarbeiterstreik gemaßregelt und 1905 nach der Teilnahme an einer SPD-Versammlung endgültig entlassen. Von einer sozialdemokratischen Massenbewegung konnte nach wie vor in der Hüttenstadt keine Rede sein. Trotzdem wurde sie akribisch überwacht.

Landeshauptarchiv Koblenz: Bestand 442, Nr. 4304, Bl. 111-114

Euer Hochwohlgeboren beehre ich mich, in der Anlage Abschrift eines Berichtes des Polizeikommissars zu Neunkirchen über eine gestern daselbst abgehaltene Versammlung des neuen (Rollschen) Rechtschutzvereins mit dem Berichte ganz gehorsamst zu überreichen, dass durch dieselbe der erste Versuch gemacht worden ist, unter der Neunkircher Arbeiterschaft festen Fuß zu fassen und Boden zu gewinnen. Es muß sich zeigen, ob dies gelingt. Bei der furchtlosen Strenge, die neben umfassender Fürsorge den Arbeitern in Neunkirchen gezeigt wird, steht zu erwarten, dass es dem Verein nicht gelingen wird, unter den Leuten dort selbst, namentlich auch unter denen des Gebrüder Stummschen Eisenwerks viel Unheil zu stiften und Anhänger zu gewinnen. Die hertzerische Presse hat nicht versäumt, auswärts die gestrige Versammlung schon vorher anzukündigen und dabei das beliebte Thema vom schwarzen Brett am Hüttentor breitzukneten. Tatsache ist, dass die Werksleitung durch Aushang vor Beitritt zum Rollschen Verein und vor der Teilnahme an dessen Versammlungen gewarnt und diese verboten hat. Auffällig erscheint, dass die neue freisinnige „Neunkircher Tagespost“, welche in Zweibrücken gedruckt wird, von einem diesbezüglichen Verbot etwas wusste als der Anschlag erfolgt war. Die Angabe des Roll, er habe erst auf dem Bahnhof Neunkirchen von der Versammlung gehört, ist selbstredend unrichtig.

Auszug aus einem Bericht des Landrats Ottweiler vom 4. Juli 1890

Der Bericht des Ottweiler Landrates endet mit der Feststellung:„ Solange die königliche Bergverwaltung und vor allem die Gebrüder Stumm die Agitation nachdrücklich bekämpfen, wird die Sozialdemokratie hier auch keine wesentlichen Fortschritte machen“.
Die Behörden legten Namenslisten derer an, die sich für die SPD engagierten. 1906 reagierten die Hüttenindustriellen mit einer neuen Strategie auf die freigewerkschaftlichen Versuche an der Saar Fuß zu fassen. Sie gründeten die so genannte „Gelbe Gewerkschaft“, eine von den Arbeitgebern finanziell unterstützte Organisation. Bis weit über den 1. Weltkrieg hinaus waren die gelben Organisationen beherrschend. Überall in Deutschland gab es Protestbewegungen gegen den drohenden Krieg. In und um Neunkirchen allerdings blieb es still.

1915 – 1918
Zunächst erlebte die kleine Arbeiterbewegung an der Saar wieder einen deutlichen Abschwung, obwohl SPD und Gewerkschaften sich mit dem Kriegsbeginn für die vermeintliche Landesverteidigung aussprachen (Teile der SPD haben im Reichstag den Kriegskrediten zugestimmt). Trotzdem wurden ihre Funktionäre in Neunkirchen zu Beginn des 1. Weltkrieges verhaftet und ins Trierer Gefängnis gebracht. Der gegen die Festgenommenen erhobene Vorwurf lautete: Gefahr der Anstiftung eines öffentlichen Aufruhrs. Angesichts der Schwäche der sozialistischen Arbeiterbewegung an der Saar entbehrte dies jeder Glaubwürdigkeit, verfehlte jedoch den Zweck der Einschüchterung nicht.
Bis in das Jahr 1917 hinein ruhte die Parteiarbeit in der Hüttenstadt. Die wenigen SPD-Mitglieder beschränkten sich darauf, lose den Kontakt untereinander zu halten. Die Mitgliederzahlen der freien Gewerkschaften gingen deutlich zurück, nicht zuletzt infolge der Einberufung zum Militär.
Am 24. und 25. September 1917 kam es zu Aufständen ausgehend von Reden und Heinitz. Durchgesetzt werden sollten eine 10%ige Lohnerhöhung und Zuschüsse zu den Kartoffellieferungen. In ganz Deutschland nahmen die Streiks zu.
Zum Ende des Krieges entwickelten sich die Arbeitsbedingungen grundlegend anders. Die Gewerkschaften hatten sprunghafte Mitgliederzuwächse. Grund war das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst vom Dezember 1916, mit dem die Regierung versuchte, insbesondere die Rüstungsproruktion noch einmal anzukurbeln. Im Rahmen des Hilfsdienstes wurden Arbeiterausschüsse gebildet, in denen auch Gewerkschaften vertreten waren, allerdings mit wenig Mitbestimmungsmöglichkeiten. Mitte Juni 1917 fanden auf dem Eisenwerk die ersten Wahlen statt. Die im Betrieb vertretenen Gewerkschaften schlossen sich zur Arbeitsgemeinschaft der vereinigten Gewerkschaften zusammen.
Während sich 1917/18 in Deutschland trotz dieser Zugeständnisse langsam eine Antikriegsbewegung entwickelte, blieb dies im Saarrevier ohne größere Resonanz.
In einer von der Zentrumspartei eingeleiteten Versammlung riefen alle Redner zum Durchhalten auf. Drei Tage später erfuhren die Einwohner der Hüttenstadt durch die Zeitungen vom Beginn der Novemberrevolution, die dem Massenmord auf den Schlachtfeldern ein Ende setzte.
Am Nachmittag des 9. November 1918 bildete sich in Saarbrücken und Neunkirchen ein Arbeiter- und Soldatenrat. In Saarbrücken und Neunkirchen fanden Hüttenarbeiterversammlungen statt. Die Arbeiter forderten die Neuwahl des Arbeiterrates und die Auflösung der gelben Werkvereine. Die Direktion des Eisenwerkes stimmte beiden Forderungen sofort zu. Im Landratsamt in Ottweiler wurden alle Dokumente der Unterdrückung und Verfolgung der Arbeiter während der letzten Jahrzehnte verbrannt. Am 10. November 1918 kamen 2000 Menschen auf einer Wiese an der Lindenallee zusammen, um über den Fortgang der Dinge zu entscheiden und einen Arbeiterrat zu wählen. In den Arbeiterrat wurden 21 Personen unterschiedlicher politischer Herkunft gewählt u. a.: Bergmann Hermann Petry, Hüttenschreiner Thiery, Buchdrucker Püngler, Hüttenarbeiter Peter Schroer, Augenarzt Karl Schneider, Lehrer Hussong, Hauptmann Stoll, Rechtsanwalt Kohler, Amtsrichter Niebor und als Pressevertreter Peter Meier. Dem Rat gehörten damit nicht allein Vertreter der SPD und der Gewerkschaften, sondern auch bürgerlicher Gruppierungen an. Gemeinsam wurde auf dem Bürgermeisteramt die rote Fahne gehisst und der Bürgermeister über die neueste Entwicklung informiert.

Landesarchiv Saarbrücken, Abteilung Plakate

Soldaten! Arbeiter! Bürger!
Unsere große Stunde ist da! Ein neues Deutschland ist erstanden. Arbeiter und Soldatenrat haben die Regierung in den Händen. Alle Zivil- und Militärbehörden haben sich der Macht untergeordnet, denn bei uns ist das Recht und die Macht! Wir bürgen für Ruhe und Ordnung. Ihr habt die Pflicht, unsern Anordnungen Folge zu leisten. Meidet Straßenversammlungen! Sorgt dafür, dass die Verkehrsanlagen frei bleiben. Unterstützt alle Behörden, sie arbeiten für und mit uns. Vergeßt persönliche Verärgerungen und Reibungen. Seid eingedenk des großen Zieles. Eure Versorgung mit Lebensmitteln ist gewährleistet und liegt in sicheren Händen. Jeder gehe seiner gewohnten Arbeit nach. Kinder und Jugendliche gehören abends ins Haus. Käufer und Verkäufer, hütet Euch vor Wucher und seid gewiß: Die Wucherer werden wir finden und bestrafen. Wer Waren zurückhält oder verschiebt, ist ein Volksverräter. Oberste Sicherheitsbehörde ist der Arbeiter- und Soldatenrat. Die Polizeibehörde arbeitet in seinem Auftrage. Unterstützt unsere Bemühungen. Wer sich unseren Anordnungen widersetzt, wird bestraft. Vergehen gegen Eigentum, Sicherheit und Ehre der Person kommen vor das Standgericht. Euer Pflichtgefühl rufen wir wach!
Der Arbeiter- und Soldatenrat: Petri, Schroer, Fuchs

Aufruf des Arbeiter- und Soldatenrates Neunkirchen vom 10. November 1918

Zur interessantesten Figur im Neunkircher Rat wurde der Augenarzt Karl Schneider. Er forderte, der Revolution Zeit zu lassen und keine vorschnellen Festlegungen zu treffen. Er goss die Lauge seines Spottes über die Bürgerschaft und machte sich darüber lustig, dass es jetzt so viele Demokraten gäbe, die mitarbeiten wollten. Früher habe er sich immer einsam gefühlt und dabei gar nicht gewusst, dass er so viele Freunde hat.
Auch in Wiebelskirchen wurde am 12. November 1918 ein Arbeiterrat gewählt. In einem Aufruf wurde das Ziel der Räte verkündet:
„Soldaten, Arbeiter, Bürger! Unsere Stunde ist da, ein neues Deutschland ist entstanden. Arbeiter- und Soldatenräte haben die Regierung in Händen. Alle Zivil- und Militärbehörden haben sich der Macht untergeordnet, denn bei uns ist das Recht und die Macht.“
Im Mittelpunkt der Bemühungen stand die Lebensmittelversorgung, die Unterbindung des Wuchers, die Bereitstellung von ausreichendem Wohnraum, die Sicherung von Beschäftigungsmöglichkeiten.

– Ende des 1. Teils
Georg Jung