Heimkehr im Juni 1946 | ||||||||
von Werner Fried | ||||||||
Wenn ich mir heute im Jahre 2001 als 77-jähriger Mann die jungen Leute
im Alter von 16, 17 und 18 Jahren ansehe, dann sind das in meinen Augen
junge heranwachsende, aber noch nicht wirklich reife Menschen. Während des Krieges aber wurden wir jungen Männer in diesem Alter, zum Teil von der Schule herunter, zu Soldaten gemacht, ich selbst zum Frontsoldaten in Rußland, wo ich Ende Oktober 1944 in Gefangenschaft geriet, aus der ich mit viel Glück, nachdem zwei von dreien meiner damaligen 1000 Mitgefangenen schon verstorben waren, im Juni 1946 als völlig ausgemergelter Mensch endlich entlassen wurde. Von Kameraden, die erst nach Ende des Krieges zu uns ins Lager kamen, hatte ich gehört, dass auch Neunkirchen bombardiert und völlig zerstört worden sei. Meine Eltern wohnten zwar in Wellesweiler, aber dennoch war ich voller Sorge und in großer Ungewissheit darüber, ob sie diese Bombardierungen und überhaupt den ganzen Krieg überstanden haben. So kam ich dann am 13. Juni 1946 auf dem zerstörten Neunkircher Bahnhof an, und da ich auf einen Zug nach Wellesweiler noch lange hätte warten müssen, mein Drang nach Hause und nach Gewißheit aber immer stärker wurde, kam mir in den Sinn, dann lieber mit der Strassenbahn bis in den Steinwald zu fahren und von dort nach Wellesweiler zu laufen. Weil die Bahnhofsbrücke nur noch für Fußgänger passierbar war, konnte die Strassenbahn damals nur bis zum Cafe Vomwalde in der oberen Bahnhofstraße fahren. Was ich aber nicht wußte, das war die Tatsache, dass die Straßenbahn, nachdem die zerstörte Bliesbrücke wieder notdürftig hergerichtet war, gerade erst wieder seit dem 27. Januar dieses Jahres 1946 bis zur Scheib und erst seit fünf Tagen, also erst ab dem 8. Juni 1946 wieder bis in den Steinwald fuhr. Da keine Straßenbahn zur Stelle war, entschloss ich mich, bis zum Stummdenkmal zu laufen, um gleich einmal zu sehen, wie stark die Stadt unter den Bombardierungen gelitten hat. Eigentlich war ich überrascht darüber, dass entgegen meinen großen Befürchtungen doch noch einiges von Neunkirchen erhalten war. Dieser Eindruck wurde damals in mir verstärkt, weil ich ja die ganz große Trostlosigkeit, die unmittelbar nach der Bombardierung herrschte, schon nicht mehr sah, denn die Bahnhofstraße war von den Trümmern schon weitgehend befreit. Rechts und links aber war sie umsäumt von Trümmergrundstücken und ausgebrannten Hausruinen. Doch wo waren all die vielen Menschen, die hier ihr Zuhause hatten? Am Stummdenkmal angekommen, wurde mir erst richtig bewusst, wie still und tot die Stadt doch war und welche Stille gerade dort unten am Denkmal herrschte, wo man doch früher vom Eisenwerk her ständig das metallische Quietschen und Kreischen vernahm und wo von dort her auch die Luft immer so staubgeschwängert war. Auch die Hütte war schwer getroffen und lahmgelegt. Niemand wusste damals, ob und wann sie wieder in Betrieb gesetzt wird. Nur relativ wenigen Arbeitern, die mit Aufräumarbeiten beschäftigt waren, bot sie noch Arbeit und Brot. Nun stand ich Heimkehrer hier an diesem trostlosen Ort und wartete auf die Straßenbahn. Da gerade Schichtwechsel war, standen bald mehr Arbeiter um mich herum, als der alte kleine Straßenbahnwagen mit seinen längsseits angeordneten Holzbänken mitnehmen konnte. Und als sie dann endlich vorfuhr, da gab es ein großes Gedränge, dem ich auf meinen schwachen Beinen einfach nicht gewachsen war. Mit noch vielen Arbeitern, die auch nicht mitgekommen waren, wartete ich nun geduldig auf die nächste Bahn, und ich kam wieder nicht mit. Wenn auch schwach auf den Beinen, aber im Kopf noch klar, sollte mir das nicht noch ein drittes Mal passieren. Ich wollte doch nach Hause! Kurzentschlossen ging ich deshalb hinüber auf die andere Straßenseite und fuhr mit der nächsten Straßenbahn zurück bis zum Cafe Vomwalde. Der gütige Schaffner nahm mich, da ich ja keinen Pfennig in der Tasche hatte, auch ohne Bezahlung mit, und er duldete auch, dass ich am Endpunkt nicht ausstieg, sondern von dort, nun sogar mit Sitzplatz, am Denkmal vorbei bis in den Steinwald fuhr. Wie aber war ich erleichtert, als mich nun auf dem Fußweg nach Wellesweiler eine alte Bekannte einholte und mir berichtete, dass meine Eltern und Geschwister den Krieg heil überstanden hatten und dass mein jüngerer Bruder, der auch noch Soldat hat werden müssen, schon wieder zu Hause sei. Welch ein Glück bei aller Not, die in der Heimat im Jahre 1946 ja auch noch herrschte! Aber ich war zu Hause, und ich war nicht mehr der völlig wehr- und rechtlose Kriegsgefangene. Wie gerne hätten auch meine in der Gefangenschaft verstorbenen und die dort immer noch sterbenden Kameraden dieses Glück der Heimkehr erlebt, und wäre es nur ein Tag gewesen, um dann zu Hause zu sterben. Doch sie haben bis heute nicht einmal ein würdiges Grab. Wie klein aber sind da unsere heutigen Probleme. Zu Fuß wären wir damals für ein Brot oder einen Korb voller Kartoffeln kilometerweit gelaufen. Doch heute ist vielen schon der Weg zum Bäcker zu weit. Man fährt mit dem Auto, um die Brötchen zu kaufen, und laut wird gejammert über die hohen Benzinpreise. Niemand wünscht sich ja diese schlimmer Not der Kriegs- und Nachkriegszeit zurück, doch würde nicht uns allen ein bisschen mehr Bescheidenheit gut zu Gesicht stehen, gerade angesichts der Not in der Welt, ja leider auch der Not, die es leider auch unter uns immer noch gibt. Wie waren wir doch einmal so froh, wenn wir auf dem Mittagstisch zu einer Scheibe Brot einen Teller „Rappsupp“ hatten. Und wie glücklich wären wir gewesen, wenn wir wenigstens immer genügend trockenes Brot gehabt hätten! | ||||||||
Fotos: Archiv Schwenk Quelle: A. Joeres |