Schüler in der Kinderlandverschickung | ||||||
Oktober 44–Mai 45, in Bad Sachsa/Südharz u. Oberhof/Thüringen | ||||||
3 und letzter Teil – von Günter Schwinn | ||||||
Etwas anderes hatten sie uns ebenfalls an Andenken hinterlassen. Nachdem wir wieder in unseren Betten geschlafen hatten, bekamen einige von uns die Krätze. Die Betroffenen, zu denen ich leider auch zählte, kamen in Quarantäne in eine Extrastube. Das hatte den Vorteil, dass wir vom wieder aufgenommenen Schulbetrieb befreit waren. Es hatte aber auch einen Nachteil. Wie einige andere auch, hatte ich mich schon bei der Gemeinde abgemeldet, um zu Fuß auf eigene Faust den Nachhauseweg anzutreten. Daraus wurde wegen der Quarantäne dann vorerst nichts.
Wie sehr uns der Hunger auch in dieser Zeit plagte, geht aus folgender Begebenheit hervor. Ich, für den zu Hause die Gartenarbeit nur ein notwendiges Übel war, sah einmal eine Frau mit ihrem Jungen auf einem Anwesen an der Straße im Hof und Garten arbeiten und fragte sie ob ich helfen dürfte. In der Hoffnung mit etwas zum Essen belohnt zu werden. Und so war es dann auch. Nach dem Verzehr eines Marmeladebrotes wollte ich noch weiter helfen, da ich noch Hunger hatte und angefüttert war. Nachdem ich im Keller noch Holz zerkleinert hatte war ich so undankbar und ließ einige ganz welke Kartoffeln mit langen Keimen mitgehen, die wir dann auf der Stube in gefundenen leeren Dosen mit Pulver-Ringen und Stäbchen, welche wir aus im Wald gefundenen Kartätschen entnommen hatten, zu kochen versuchten. Essen mussten wir sie dann aber fast roh, da das Kochen nicht gelang. Auf unseren Erkundungen ist es auch vorgekommen, dass wir im Wald nach der Einnahme des Ortes auf gefallene deutsche Soldaten stießen, welche noch nicht begraben waren. Es wurde uns berichtet, dass in den Wäldern auch von Baum zu Baum Drähte gespannt waren durch welche bei Unachtsamkeit Granaten gezündet wurden. Dann saßen wir einmal während einer Ausgangssperre wegen ungenehmigtem Entfernen aus dem Haus, am Fenster und spielten Karten. Auf einmal sah ich vor dem Haus auf dem Bürgersteig meine Mutter stehen. Ich sprang auf, stieß am Hauseingang die Wache zur Seite und fiel draußen meiner Mutter um den Hals. Sie hatte sich mit der Mutter meines Klassenkameraden Günter Liedtke, von zu Haus zu Fuß ohne Passierschein, durch die verschiedenen Besatzungszonen auf die Suche nach uns gemacht. Denn schon Monate davor war die Postverbindung abgerissen und zu Hause wusste man nur, dass Kinder aus KLV-Lagern auch gefallen und in Gefangenschaft geraten waren. Die Mutter von Günter Liedtke hatte die Gefahr und die Strapazen umsonst auf sich genommen, denn dieser war bereits, ebenfalls zu Fuß, nach Hause gegangen. Nachdem sich die Mütter ein oder zwei Tage ausgeruht hatten, machten wir uns zusammen mit noch einigen Jungen aus Neunkirchen und Umgebung auf den Nachhauseweg. Für die Mütter eine doppelte Tortur. Nachdem sie die ca. 400 km schon einmal zurückgelegt hatten, sich wegen etwas zum Essen durch gebettelt hatten, froh wenn sie die Nächte auf einem Strohlager in einer Scheune verbringen konnten, nun mit uns und unserem Gepäck, soweit dieses noch vorhanden war. Mit unseren Kleidern, die wir von zu Hause dabei hatten, war folgendes passiert: Im zusammen gelegten Lager waren keine Spinde oder Schränke vorhanden, in welche an die hundert Kinder ihre Habseligkeiten unterbringen konnten. So wurden die Kleider, die wir nicht am Leib trugen in unseren Koffern in einem Kellerraum gelagert. Als dann die Amerikaner die Häuser nach Waffen und sonstiger Beute durchsuchten machten sie sich nicht die Mühe, die nicht abgesperrten Koffer zu öffnen sondern sie schnitten sie auf und rissen den Inhalt heraus. So lagen die Kleider von allen durcheinander auf dem Kellerboden. Dazu kam, dass sie die vorgefundenen Weinflaschen aus dem Hotelkeller nicht entkorkten sondern einfach die Flaschenhälse abschlugen, wobei auch viel Wein auf dem Boden landete. Mit diesem an den Schuhen über unsere Kleider hinweg kann man sich leicht vorstellen, dass viele Kleidungsstücke von ihren Besitzern nicht mehr zu erkennen waren. An einem Tag an welchem die somit herrenlos gewordene Kleidungsstücke an uns, verteilt werden sollten, musste ich trotz meines Sträubens - und ich wusste warum - meine schäbige Skibluse ausziehen um auszuprobieren ob mir eine der anderen passte. Ich aber hatte mich gerade mit viel Glück durch die Kontrolle der Lagerwache am Eingang geschmuggelt und war froh, dass die Schokolade die ich bei einem Amerikaner geschnorrt hatte und die ich über dem festsitzenden Koppel in der Skijacke verborgen hielt, beim Heimkommen nicht entdeckt worden war. Und nun fiel die ganze Herrlichkeit, mit der ich meine Kameraden überraschen wollte, beim Umziehen auf. Eine Lehrerin „beschlagnahmte“ meine Bescherung, die ich, wie sie meinte, „ohne Stolz“ vom Feind angenommen hätte, und ich warf mich mit dem dazu bekommenen Kleidungsstück, voll Wut und Trotz weinend auf mein Bett. Als mich die Kameraden mit der Hoffnung trösten wollten, ich bekäme sicher einen Teil von der Schokolade ab, erwiderte ich ihnen; „Die soll sie alleine fressen“. Was ich nicht bemerkt hatte, „Die“ stand neben meinem Bett und hat meine Worte gehört, was mir eine Ohrfeige einbrachte. Kaum den Heimweg angetreten, wurde ich an einem Straßenkontrollpunkt im ersten Ort am Weg, schon „entnazifiziert“. Von zwei Zivilisten mit Armbinden, die jetzt das Sagen hatten, und welche eine Leibes- und Gepäckkontrolle bei uns vornahmen. Als sie keine Uhren und sonstige Wertsachen bei uns fanden, rissen sie mir unter Beschimpfungen, das Koppelschloss, auf dem noch das Hakenkreuz war, vom Koppel. In Zellamehlis trennten wir uns von den ersten Kleidungsstücken, die uns zu schwer zum Tragen waren. Ein Koffer mit Mänteln und anderen entbehrlichen Kleidungsstücken ließen wir bei Leuten zurück, die uns versprachen, diese für uns aufzuheben. Ich habe also keinen Koffer in Berlin sondern in Zellamehlis. Wenn wir Glück hatten, konnten wir auch schon mal in richtigen Betten übernachten. Wenn wir mit wunden Füßen in unseren schlechten Schuhen unsere täglichen -zig Kilometer zurücklegten, kostete es auch schon einmal Tränen. Einer aus unserer kleinen Gruppe rief einmal aus; „Warum müssen wir das durchmachen, wir sind doch noch so klein.“ Einmal als wir neben einer damals kaum benutzten Autobahnstrecke hergingen, hielt ein kleiner Lieferwagen an und nahm zwei von unseren Kameraden und unser ganzes Gepäck mit. Am Ortseingang von Hanau sollten die zwei mit unserem Gepäck auf uns warten. Nach zweitägigem Suchen fanden wir endlich unser Gepäck, das die beiden Jungen, weil wir sie nicht gefunden hatten, in einem Haus deponiert hatten, bevor sie weiter gezogen waren. Meine Mutter und ich machten dann bei Bensheim an der Bergstraße bei Verwandten eine Rast von zwei Tagen. Von dort zogen wir, das Gepäck auf einem Kinder-Sportwagen schiebend weiter. Bei Nacht und Nebel ließen wir uns von irgendwelchen ortskundigen Schleusern illegal in einem Kahn über den Rhein schiffern. In Kirchheim-Bolanden wurden wir dann noch für eine Nacht festgehalten weil wir keine Papiere hatten. Mein Vater der als Eisenbahner in dieser Zeit dienstlich unterwegs war hatte die ganze Zeit nicht gewusst wie meine Mutter, damals 35 alt, dieses gefährliche Abenteuer durchsteht und ob sie mich überhaupt angetroffen hat. In meiner Leistungsbescheinigung (Zeugnis) ist als Aufenthalt im KLV-Lager die Zeit vom 08.10.44 bis 10.05.45 eingetragen, aber ich glaube das Schlussdatum bezeichnet den Zeitpunkt des ersten, Versuchs mich in die Heimat abzusetzen, was wegen der Quarantäne gescheitert war. So endete die abenteuerlichste Zeit meiner Jugend. Als ich irgendwann vor dem Herbst wieder daheim war gab es die Hauptschule und das meiste von Neunkirchen, so wie ich es gekannt hatte, nicht mehr. Am 01. Oktober 1945 begann dann wieder der Schulbetrieb. Die euphorische Schilderung der ersten Fahrt einer Kinderlandverschickung aus dem Neunkircher Raum ruft natürlich viel positivere Bilder und Erinnerungen wach gegen das was wir kurz vor und nach Kriegsende in den Lagern erlebt haben. Aber diese Unterschiede treffen ja sicher auf alle Gebiete zu auf die der Krieg Einfluss hatte. Die immer verheerender werdenden Bombenangriffe, die größer gewordene Knappheit an Lebensmittel und allen sonstigen Gütern des täglichen Lebens und die Not und Sorge der zu Hause Bombengeschädigteen und/oder wegen des ungewissen Schicksals der Angehörigen an der Front oder in Gefangenschaft machten den meisten Menschen den Alltag zum Horror. Möge es der letzte Krieg gewesen sein der auf unserem Boden ausgetragen wurde und unseren Kindern und Kindeskinder so etwas für immer erspart bleiben. Die Fotos zu dieser Serie wurden uns freundlicherer Weise vom Archiv des Historischen Verein Stadt Neunkirchen, Walter Baab und Annweiler Helmut zur Verfügung gestellt. |
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– Ende 3. und letzter Teil –
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Günter Schwinn
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