Historischer Verein
Stadt Neunkirchen e.V.

Historischer Verein Stadt Neunkirchen e.V.

Schüler in der Kinderlandverschickung
Oktober 44–Mai 45, in Bad Sachsa/Südharz u. Oberhof/Thüringen
Teil 1 – von Günter Schwinn
 
Vorwort: Am 27. September 1940 ordnete Hitler in einem „streng vertraulichen Führerbefehl“ an, dass „die Jugend aus Gebieten, die immer wieder nächtliche Luftalarme haben, auf der Grundlage der Freiwilligkeit in die übrigen Gebiete des Reiches geschickt wird“. Lehrkräfte der Heimatschulen sollten im Wesentlichen für die Unterrichtserteilung am Unterbringungsort sorgen. Die Maßnahme entwickelte sich im weiteren Kriegsverlauf zu einer der grössten Binnenwanderungen in der Geschichte.
Etwa 2 bis 2,5 Millionen Kinder wurden zum Schutz vor Luftangriffen in ungefährdete Teile des Reiches und des befreundeten Auslandes verschickt. Ein gewünschter Nebeneffekt war, dass dort der nationalsozialistische Erziehungsapparat ungehindert auf sie einwirken konnte. „Verschickt“ wurden auch Mütter mit Kleinkindern und Kinder bis 10 Jahren, die ausschließlich in so genannte Pflegefamilien gegeben wurden.
Da auch Neunkirchen auf Grund der zum Teil in der Stadtmitte liegenden kriegswichtigen Industrieanlagen und des für den Nachschub nach Westen wichtigen Verkehrsknotenpunktes Hauptbahnhof ein bevorzugtes Ziel der alliierten Bomber war, gab es auf unsere Stadt zahlreiche Luftangriffe und demzufolge einen überproportional hohen Anteil von Kindern in der Kinder-landverschickung. Die Erfahrungen der verschickten Mädchen und Jungen waren sehr individuell und unterschiedlich. Während die anfänglichen Berichte aus der Kinderlandverschickung noch euphorisch klangen, erlebten die Kinder in den Jahren 1944–45 die KLV-Aufenthalte oft als schlimme und leidvolle Phase.
Der „Historischer Verein Stadt Neunkirchen“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, die KLV aus Neunkirchen aufzuarbeiten und zu dokumentieren. Zu diesem Zweck hat der Verein eine Arbeitsgruppe gebildet. Der Verein ist an den Erinnerungen und den Eindrücken aber auch an Fotos und sonstigen erhaltenen Exponate ehemals verschickter Kinder interessiert (wir werden sie natürlich nach Fertigung von Kopien, Fotos oder Reproduktionen zurückgeben).

Interessierte wenden sich bitte an Günter Schwinn, Niederbexbacher Straße 112, 66539 NK-Kohlhof, Tel. 06821/33428, Fax (bitte vorher anmelden) 33428 oder den Vorsitzenden des Vereins Wolfgang Melnyk, Tel. 06821/87440.
Beispielhaft wird nachfolgend ein Aufsatz von Günter Schwinn veröffentlicht, der das Kriegsende in der Kinderlandverschickung in einer für ein Kind im Vergleich zur heutigen Zeit unvorstellbar dramatischen Situation erlebt hat.
Armin Schlicker

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„Günter Schwinn in der Jungvolkuniform“

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„Haus Warteberg auf einem Nachkriegsfoto“
Wir waren 10 Jahre alt, als wir 1942 von der 4. Volksschulklasse in die „Hauptschule“, in der unteren Langenstrich-Straße in Neunkirchen, versetzt wurden. Mit 10 Jahren kam man damals auch ins „Jungvolk“. Uniformträger in Stufe eins. Eine Fortsetzung (Hitlerjugend) blieb uns altersbedingt und durch das Kriegsende erspart. Braunhemden, Halstuch mit Knoten, Gürtel mit Koppelschloß und dunkle Uniformen trugen wir aber schon und unter Jungschafts-, Zug- und Fähnleinführer lernten wir das Marschieren sowie das dazugehörige Parieren.
Im zweiten und dritten Hauptschuljahr (1943/ 44), erging dann von Schule oder vom „Bann“ die „Empfehlung“ zwecks Nachweis der arischen Abstammung, an Hand von Auszügen aus den Kirchenregistern, die Herkunft der Ahnen nachzuweisen, weswegen ich dann zu den Kirchenämter in Sötern und Birkenfeld reiste, um solche Bescheinigungen einzuholen und unseren Stammbaum zu vervollständigen.
In der Schule teilten sich Lehrer Nauhauser und Englischlehrerin Frau Pädezäus, sowie Rektor Lauer die Bemühungen, uns im Geist der Zeit zu erziehen. Der Unterricht wurde nach den ersten großen Fliegerangriffen (z.B. am 27. Mai und am 16. und 19. Juli 1944) immer öfter gestört. Viele Schultage verbrachten wir länger im Keller der Schule als im Klassenzimmer. Noch gefährlicher war der Schulweg. Dieser war für mich, vom Ortsende von Wellesweiler - der Mühlenbergsiedlung-, fast durch den ganzen Ort, zum Bahnhof Wellesweiler und vom Bahnhof Neunkirchen bis in den Langenstrich, oft von der Angst vor Angriffen überschattet. Die damalige Einrichtung der Kinderlandverschickung, eine Aktion, um Kinder aus durch Angriffe gefährdeten, Ballungsräumen in Gegenden ohne kriegswichtige Industrie zu evakuieren, war mir eine willkommene Möglichkeit, um meine jungenhafte Neugier auf Eindrücke und Erlebnisse außerhalb des elterlichen Hortes anzustreben. Es kostete mich allerdings viel Überredungskunst und Tränen bis meine Eltern damit einverstanden waren, dass ich mich zu der Verschickung anmelden durfte. So war dann der Angriff am 5. Oktober 1944 der letzte an dem ich noch daheim war. Am 8. Oktober ging es dann per Bahn in Richtung Südharz. Bad Sachsa war das Ziel. Allerdings auf Umwegen. Denn die kriegswichtigeren Transporte hatten Vorfahrt auf den Schienen und öfter wurde unser Zug auf einem Gleis „geparkt“ von dem man glaubte, dass die Gefahr durch feindliche Flieger weniger groß war.
Haus Warteberg hieß unser neues Heim, es lag außerhalb des Luftkurortes auf einem Berg in schöner landschaftlichen Umgebung. Das gesellige Lagerleben unter Gleichaltrigen, die Abwechslung durch Sport und Spiel, Marschieren und Geländespiele ließen neben dem schulischen Unterricht keine Langeweile aufkommen. Das Essen aus der Lagerküche hinterließ keine sehr positive Erinnerungen. Mutters Küche zu Hause konnte uns in den Kriegsjahren davor ja auch schon nicht mehr verwöhnen. Aber dort gab es neben den Rationen auf den Lebensmittelkarten immer noch den Garten beim Haus. Die Rüben, die im Lager nur allzu oft auf den Tisch kamen, wurden von uns Jungen, wegen ihres Zustands, nur „Sperrholz“ genannt. Anfangs kam ab und zu noch ein Päckchen von zu Haus. Wie groß unser ungestillter Appetit meistens war, ist in den 55 Jahren die dazwischen liegen, wie so vieles in der Erinnerung verblasst. Nicht vergessen ist ein Brotpudding, den es in einem von uns besuchten Nachbarlager zu kosten gab. Daran gemessen wurden wir in unserem ersten Lager sicher nicht von der Küche verwöhnt. Aber es war ja Krieg und wir waren „deutsche Jungs“, mit dem Erziehungsziel:“ Zäh wie Leder und hart wie Krupp-Stahl“. Und daran arbeiteten wir, ohne es eigentlich zu wollen.
Gelegentlich haben wir bei unseren Ausmärschen, von weitem, auch Menschen in gestreifter Kleidung gesehen, wodurch bei uns zwölfjährigen schon der Eindruck entstand, dass es sich um Gefangene handeln musste, wahrscheinlich auch wegen der bewaffneten Bewacher. Heute weiß ich, dass es sich um KZ-Insassen gehandelt haben muss, aus welchem Lager auch immer. Zu den größeren Städten in der Umgebung gehörte Nordhausen. In unserem damaligen Alter hat uns niemand darüber aufgeklärt was es mit den Konzentrationslagern für eine Bewandnis hatte.
Weihnachten und Sylvester 44/45 wurde dann auch weniger festlich und fröhlich als zu Hause erlebt, aber das leichte Heimweh wurde durch das Bewusstsein verdrängt „du wolltest ja freiwillig von zu Hause weg und etwas erleben.
Irgendwann Ende Januar, Anfangs Februar kam es dann zu einer Verlegung in ein anderes Lager. Durch welche Kriegsereignisse oder Gegebenheiten dies veranlasst wurde, ist uns entgangen. Vielleicht wurde unser Haus Warteberg wegen seiner ruhigen Lage zu einem Militärlazarett umfunktioniert? Unser nächstes Lager sollte im bekannten Wintersportort Oberhof sein. Aber dort hin zu kommen war damals schon sehr problematisch. Ging dies doch nur streckenweise per Bahn; „Räder mussten rollen für den Sieg“. So mussten wir den größten Teil der Strecke innerhalb zweier Tage, ohne Gelegenheit zum Schlafen, marschierend zurück legen. Die Nacht dazwischen verbrachten wir total erschöpft teils sitzend, teils stehend in einem Bahnhof. In Luftlinie liegen etwa 115 km zwischen Bad Sachsa und Oberhof, die Wege die wir gehen mussten kamen uns aber viel weiter vor. Unser Gepäck wurde zum Glück per LKW zum neuen Standort befördert. Irgendwann, nach vielen Strapazen, landeten wir im Haus „Diana“, in Oberhof. Von diesem Zwischenlager ist mir nur noch in Erinnerung, dass es gemütliche Abende gab, bei denen wir um einen musikalischen Begleiter gruppiert, schöne Volks- Marsch- und Wanderlieder gesungen haben. Dafür sind mir aber vom nächsten Lager Ereignisse tief im Bewußtsein verankert.
– Ende Teil 1 –
Günter Schwinn